WhatsApp und die Domestizierung von Nutzern

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This post is a translation of Rohan Kumar’s English post WhatsApp and the domestication of users from the beginning of 2021 into German.

Ich habe WhatsApp nie genutzt und werde es nie nutzen. Nichtsdestotrotz habe ich das Bedürfnis, einen Artikel über WhatsApp zu schreiben, weil es ein perfektes Beispiel ist, um eine Gruppe von Geschäftsmodellen zu verstehen, die auf — wie ich es nenne — der Domestizierung von Nutzern basieren. Da ich die Domestizierung von Nutzern für ein großes Problem halte, ist es eine detaillierte Untersuchung wert.

WhatsApp war nicht der erste Instant Messenger seiner Art und wird wohl auch nicht der letzte sein. Ich habe mich hier nur deshalb auf WhatsApp fokussiert, weil die kürzliche Änderung der Datenschutzerklärung und Geschäftsbedingungen für ein größeres mediales Echo gesorgt haben.

Nach dieser kurzen Metadiskussion, können wir uns dem Problem zuwenden.

WhatsApps Aufstieg

Für diejenigen, denen WhatsApp nichts sagt: es ist ein Tool, dass es Facebook einfach und bequem macht, seine Unternehmensmission voranzubringen: das Versteigern von menschlichem Verhalten (allgemein bekannt als “personalisierte Werbung”). Ursprünglich hat Facebook die Menschen damit überzeugt, dem zuzustimmen, indem sie es — gepaart mit einer simplen Benutzeroberfläche und erfolgreichem Marketing — ermöglicht haben über das Internet mit anderen Menschen zu kommunizieren (was bereits anderweitig möglich war). Später sind mit kostenlosen Anrufen und Videoanrufen weitere Features dazugekommen. Diese kostenlosen Anrufe haben WhatsApp dabei geholfen, die de-facto Kommunikationsplattform in vielen Regionen geworden zu sein. Ich bin jedes mal über WhatsApps Allgegenwart überrascht, wenn ich meine Verwandten in Indien besuche: ich werde häufig mit verwirrten Blicken bedacht, wenn ich sie daran erinnere, dass ich kein WhatsApp nutze.

Das eigene proprietäre Chatprotokoll, dass nicht mit anderen Apps kommunizieren kann, hat es WhatsApp erlaubt, von Netzwerkeffekten zu profitieren: WhatsApps Nutzer waren praktisch gefangen, da ein Löschen von WhatsApp bedeutete, nicht mehr mit anderen WhatsApp Nutzern kommunizieren zu können. Leute, die von WhatsApp wechseln wollen, müssen dementsprechend alle ihre Freunde davon überzeugen, ebenfalls zu wechseln; oft sind auch weniger technisch versierte Freunde darunter, die bereits Schwierigkeiten im Umgang mit WhatsApp hatten.

In der WhatsApp-Welt müssen diejenigen, die mit anderen in Kontakt bleiben wollen, sich an folgende Spielregeln halten:

  • Man kann ausschließlich die proprietäre WhatsApp Applikation benutzen; das Entwickeln von interoperablen Alternativen wird nicht unterstützt.
  • Jedermanns Mobiltelefon muss ein Betriebssystem unterstützen, für den die WhatsApp Applikation entwickelt wird. Da WhatsApp Entwickler sich auf die Betriebssysteme mit den größten Marktanteilen fokussieren, stärkt das das iOS und Android Duopol.
  • Nutzer sind komplett abhängig von den WhatsApp Entwicklern. Wenn die WhatsApp Entwickler entscheiden, benutzerunfreundliche Funktionen einzubauen, müssen die Nutzer es hinnehmen. Sie können nicht einfach zu einem anderen Anbieter oder einer anderen Applikation wechseln, ohne die Fähigkeit zu verlieren, mit ihren WhatsApp Kontakten zu kommunizieren.

Die Domestizierung von Nutzern

WhatsApp ist zu dem aufgestiegen, was es ist, indem es vorher freie Wesen in ihrem Stall eingepfercht hat und ihre Gewohnheiten so änderte, dass sie abhängig wurden. Mit der Zeit wurde es für die Wesen immer schwieriger, zu ihrem vorherigen Leben zurückzukehren. Dieser Prozess sollte bekannt vorkommen: er ist erschreckend ähnlich zu der Domestizierung von Tieren. Ich nenne diese Art von Lock-In deshalb die Domestizierung von Nutzern: das Entfernen von Nutzerautonomie, um Nutzer dazu zu nötigen, den Entwicklern zu dienen.

Ich habe diese Metapher gewählt, weil die Domestizierung von Tieren ein gradueller Prozess ist, nicht immer bewusst abläuft und typischerweise darin besteht, dass eine Gruppe zusehends abhängiger von einer anderen wird. Zum Beispiel: Es gibt Belege dafür, dass die Domestizierung von Hunden mit Sozialisierung angefangen hat, die durch Selektion bestimmter Gene zu mehr Freundlichkeit zu und gesteigerter Abhängigkeit von Menschen führte.1

Ob die Domestizierung von Nutzern nun gewollt ist oder durch Zufall passiert, sie erfolgt fast immer in diesen drei Schritten:

  1. eine starke Abhängigkeit der Nutzer von den Softwareentwicklern
  2. Nutzer sind durch mindestens eine der folgenden Methoden unfähig gemacht, die von ihnen benutzte Software zu kontrollieren:
    1. die Veränderung der Software ist untersagt
    2. die Migration auf eine andere Plattform verunmöglicht
  3. die Ausbeutung der nun gefangenen und wehrlosen Nutzer

Das Durchlaufen der ersten zwei Schritte hat WhatsApp Nutzer anfällig für ihre Domestizierung gemacht. Da man Investoren gegenüber rechenschaftspflichtig war, hatten die WhatsApp Manager jeden Grund nutzerunfreundliche Funktionen einzubauen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Und — natürlich — haben sie genau das getan.

WhatsApps Abstieg

Domestizierung hat einen Zweck: Sie ermöglicht, die domestizierte Spezies auszunutzen.

Vor Kurzem hat WhatsApp seine Datenschutzerklärung angepasst, die es erlaubt Daten mit ihrer Muttergesellschaft Facebook zu teilen. Bisherige WhatsApp Nutzer hatten die Wahl: die neuen Nutzungsbedingungen akzeptieren oder WhatsApp nicht mehr nutzen zu können. Das Update der Nutzungsbedingungen ist ein klassisches Beispiel einer Lockvogeltaktik: WhatsApp Nutzer sind mit einer ansprechenden Benutzeroberfläche und dem scheinbaren Versprechen von Privatssphäre angelockt worden, ihrer Autonomie in einem Prozess der Domestizierung beraubt worden, sodass WhatsApp dann im Bezug auf Privatssphäre zurückrudern konnte, ohne ernsthafte Konsequenzen zu fürchten. Jeder Schritt in dieser Folge hat den nächsten ermöglicht; wäre es nicht zur Domestizierung gekommen, wäre es für viele Nutzer ein Leichtes, die Kommunikationsplattform zu wechseln.

Diejenigen von uns, die bereits seit Jahren vor einer solchen Entwicklung warnten, konnten einen kurzen Moment von sadistischer Genugtuung erfahren, als unsere Beschreibung von “nervige und paranoide Verschwörungstheoretiker” zu lediglich “nervig” angepasst wurde.

Ein Versuch zur Schadensbegrenzung

Die Lockvogeltaktik hat zu einer starken Gegenreaktion geführt, die eine ansehnliche Minderheit an WhatsApp Nutzern tatsächlich zum Wechseln bewegt hat; diese Zahl scheint größer gewesen zu sein als der Rundungsfehler von dem WhatsApp wahrscheinlich ausging. Als Antwort darauf, veröffentlichte WhatsApp die folgende Werbeanzeige:

WhatsApp Werbung

Die Werbung listet verschiedene Daten, die WhatsApp nicht sammelt oder teilt. Datensammelei-Bedenken damit zu begegnen, was man nicht sammelt, ist irreführend. WhatsApp sammelt auch keine Haarproben oder Retina Scans; aber das Nicht-Sammeln dieser Informationen heißt nicht, dass Privatsphäre respektiert wird — weil es nichts an den Informationen ändert, die WhatsApp sammelt.

Die Anzeige streitet das “Loggen von wer wem schreibt oder anruft” ab. Das Sammeln von Daten ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Schreiben von Logs; es ist möglich diese Metadaten in einen Algorithmus zu speisen bevor man sie löscht. Das Model kann dadurch auch ohne Logs lernen, dass zwei Nutzer häufig miteinander in Kontakt stehen. Die Tatsache, dass bewusst eine solche Formulierung mit Logs genutzt wurde, impliziert dass WhatsApp solche Daten bereits sammelt und nutzt oder zumindest die Möglichkeit dafür offen lässt.

Ein Blick in die (damals) aktuelle Datenschutzerklärung von WhatsApp zeigt, dass bereits ein beträchtliches Maß an Metadaten gesammelt werden, die für Marketing durch Facebook genutzt werden.

Freie Software

Bei der Domestizierung von Nutzern ist das Bereitstellen von nützlicher Software ein Mittel zum Zweck: nämlich zum Ausbeuten der User. Die Alternative ist einfach: dem Nutzer nützlich zu sein zum Zweck an sich machen.

Um nicht von Software kontrolliert zu werden, müssen Nutzer in Kontrolle sein. Software, die es dem Nutzer erlaubt in Kontrolle zu sein, heißt Freie Software. Das Wort “frei” bezieht sich in diesem Kontext auf Freiheit, nicht auf “gratis”. Freie Software ist mit dem Konzept Open Source verwandt: Letzteres ist eine Reinterpretation von Freier Software, die den Schwerpunkt auf unternehmensfreundliche Praktiken und weniger auf den ethischen Aspekt von Freier Software legt. Eine Bezeichnung, der beide Ansätze subsummiert, ist FLOSS (free, libre, and open source software)2.

Andere haben die zugrundeliegenden Konzepte von Freier Software und deren Wichtigkeit bereits beschrieben, also gehe ich hier nicht mehr ins Detail. Aber im Grunde geht es immer um folgende vier Freiheiten, die dem Nutzer eingeräumt werden:

  1. Die Software ohne (geografische, thematische, oder sonstige) Einschränkungen auszuführen.
  2. Die Software zu untersuchen und ggf. den eigenen Bedürfnissen anzupassen.
  3. Die Software mit anderen zu teilen.
  4. Eigene Anpassungen an der Software mit anderen zu teilen.

Geld verdienen mit Freier Software

Der gängigste Einwand zu FLOSS ist, dass es schwieriger sei, damit Geld zu verdienen.

Der Schlüssel, um Geld mit freier Software verdienen zu können, ist, komplementäre Produkte zu vertreiben. Als Beispiele seien hier Support, Konfiguration, Beratung, Training, Hosting, Hardware oder Zertifizierungen genannt. Viele Unternehmen setzen bereits auf diesen Ansatz: Red Hat, Collabora, System76, Purism, Canonical, SUSE, Hashicorp, Databricks, and Gradle sind nur ein paar Beispiele, die mir einfallen.

Allerdings ist Hosting allein kein vielversprechender Ansatz, da es Giganten wie AWS im Zweifel billiger können. Aber Entwickler der Software zu sein, kann einem Vorteile im Bereich Konfiguration, Support und Training geben, während es im reinen Hosting nicht unbedingt von Vorteil ist.

FLOSS ist nicht immer genug

Freie Software ist ein notwendiges aber kein hinreichendes Kriterium, um der Domestizierung von Nutzern vorzubeugen. Zwei weitere Kriterien sind Einfachheit und Offenheit.

Einfachheit

Wenn Software komplex wird, muss sie von einem großen Entwickler-Team unterstützt werden. Nutzer, die nicht mit den Entwicklern einverstanden sind, können die Software nicht mehr leicht abändern, da sie nicht die Resourcen haben, mehrere Millionen Zeilen Code zu betreuen. Besonders dann, wenn in diesem Code, stets neue Sicherheitslücken gefunden werden können. Außerdem kann die erhöhte Komplexität der Software dazu führen, dass das Entwickler-Team nutzerunfreundliche, aber kommerzialisierbare Features einbaut, um die steigenden Entwicklungskosten zu decken.

Komplexe Software, die nicht von einem anderen, als dem bestehenden Entwickler-Team entwickelt werden kann, kreiert eine Abhängigkeit vom Entwickler: Schritt eins in der Domestizierung von Nutzern. Das allein öffnet die Tür für allerlei problematische Entwicklungen.

Fallstudie: Mozilla und das World Wide Web

Mozilla war ein Funken Hoffnung in den Browserkriegen — einem Feld, das dominiert war von Adtech, Überwachung, und Vendor Lock-In. Leider ist das Entwickeln einer Browser Engine ein solch monumentales Unterfangen, dass sogar Opera und Microsoft aufegegeben haben und lediglich Chromium redesignen. Browser tun heutzutage mehr als nur Dokumente anzeigen (ihre ursprüngliche Aufgabe): sie sind zu einer Umgebung für allerlei Apps geworden mit einem eigenen Zugang zu Resourcen wie der GPU, Bluetooth, Media Codecs, DRM3, Erweiterungs-APIs, etc. Die Liste ist schier unendlich. Es kostet jährlich Milliarden, um Schwachstellen in einer so großen Angriffsfläche zu schließen und gleichzeitig mit einem sich immer schneller entwickelnden Web-Standard Schritt zu halten. Diese Milliarden müssen irgendwo herkommen.

Mozilla musste große Kompromisse eingehen, um überleben zu können. Es ist Deals mit offen nutzerfeindlichen Unternehmen eingegangen und bündelte ihren Browser mit Werbung und Bloatware wie Pocket. Seit der Übernahme von Pocket, die zur Diversifizierung von Einnahmen unternommen wurde, hat Mozilla seine Versprechen nicht eingelöst: Während die Pocket clients mittlerweile Freie Software sind, ist der Code auf dem Server immer noch proprietär. Diesen Code zu befreien und Teile davon abzuändern, wäre aufgrund der Komplexität von Pocket erneut ein schwieriges Unterfangen.

Abspaltungen von Firefox wie Pale Moon sind nicht in der Lage mit der immer weiter steigenden Komplexität von Web Standards mitzuhalten. Kürzlich musste Pale Moon seinen Code von GitHub wegmigrieren, weil GitHub begonnen hat, Web Components einzusetzen, welche Pale Moon selbst nicht unterstützt. Es ist praktisch unmöglich, einen neuen Browser von Grund auf zu entwickeln, und die alt eingesessenen Platzhirsche (die seit Jahren mit riesigen Summen an Geld am Laufen gehalten werden) einzuholen. Nutzer können effektiv lediglich zwischen einer Browser Engine, die von Mozilla (Gecko), einer Adtech Firma (Blick von Google), oder einem walled garden Anbieter (WebKit von Apple) entwickelt wird, wählen. WebKit scheint ein gutes Produkt zu sein, aber Nutzer wären erneut hilflos, wenn Apple im Alleingang etwas nutzerfeindliches beschließt.

Kurz gesagt: die Komplexität des Web hat Mozilla — den einzige Browser Engine Entwickler, der vorgibt, “dem Nutzer zu dienen, nicht dem Profit” — dazu gezwungen, nutzerfeindliche Features in ihren Browser einzubauen. Die Komplexität des Web hat Nutzer in die Situation gebracht, lediglich die Wahl aus drei, immer dominanteren, Browser Engines zu haben, deren Entwickler starken Interessenskonflikten unterliegen.

Um Missverständnissen vozubeugen: Ich glaube nicht, dass Mozilla eine bösartige Organisation ist; ganz im Gegenteil bin ich erstaunt, dass sie in der Lage sind so viel zu leisten, ohne noch weitergehende Kompromisse einzugehen, obwohl das System, in dem sie sich bewegen, es praktisch verlangt. Ihr Kernprodukt ist nach wie vor FLOSS und leicht angepasste Versionen entfernen die Antifeatures.

Offene Plattformen

Um zu verhindern, dass Netzwerkeffekte in einen Vendor Lock-in überschlagen, muss Software, in der natürliche Netzwerkeffekte auftreten, unbedingt Teil einer offenen Infrastruktur sein. Im Fall von Kommunikationssoftware und Messengern muss es möglich sein, alternative Clients und Server-Implementationen zu entwickeln, die miteinander kompatibel sind. Das verhindert effektiv den Abschluss der ersten zwei Schritte der Domestizierung von Usern.

Fallstudie: Signal

Seit ein bestimmter Autoverkäufer “Nutzt Signal” tweetete, sind viele Nutzer fügsam gewechselt. Aktuell sind die Signal Clients und Server FLOSS und nutzen eine der stärksten Ende-zu-Ende-Verschlüsselung; ich bin trotzdem kein Fan.

Auch wenn Signals Clients und Server FLOSS sind, bleibt Signal eine geschlossene Plattform. Signal Gründer Moxie Marlinspike ist, wie er in einem Blogpost ausführt4, skeptisch gegenüber offenen und föderierten Plattformen. Das heißt, es gibt keine Möglichkeit, eine alternative Serverimplementation zu entwickeln, der von bestehenden Clients unterstützt wird oder aber einen alternativen Client, der von bestehender Serversoftware unterstützt wird. Schritt eins auf dem Weg zur Domestizierung von Nutzern ist praktisch abgeschlossen.

Abgesehen davon, dass es nur jeweils eine Client und Server Implementation gibt, gibt es lediglich einen Betreiber von Signal Servern: Signal Messenger LLC. Die Abhängigkeit der Signalnutzer von diesem zentralen Serverbetreiber hat kürzlich bereits zu einem mehr als tagelangen Ausfall geführt, als — im Angesicht des massiven Anstiegs von Nutzerzahlen — der einzige Serverbetreiber erst nachbessern musste.

Nichtsdestotrotz haben Leute versucht, alternative Signal Clients zu entwickeln: Ein Fork namens LibreSignal hat versucht, Signal auf privatsphäreorientierten Android Telefonen ohne Google Play Services zum Laufen zu bringen. Die Entwicklung dieses Clients wurde eingestellt, als Moxie klargemacht hat, dass er es nicht in Ordnung findet, dass Drittparteien Signals Server nutzen. Moxies Entscheidung ist nachvollziehbar; aber diese Situation hätte von vornherein verhindert werden können, wenn Signal nicht von einem einzigen Serveranbieter abhängig wäre.

Wenn Signal entscheiden sollte, ihre Apps so anzupassen, dass sie userfeindliche Features bekommt, werden Nutzer genauso hilflos sein wie jetzt mit WhatsApp. Auch wenn ich es für unwahrscheinlich halte, so belässt Signals geschlossene Plattform Nutzer anfällig für Domestizierung.

Obwohl ich Signal nicht mag, empfehle ich den Messenger meinen technisch weniger versierten Freunden, weil es der einzige Messenger ist, der privat genug für mich und einfach genug für sie ist. Wenn auch nur der geringste Einrichtungsaufwand (Accounterstellung, manuelles Hinzufügen von Kontakten, etc.) nötig gewesen wäre, wäre einer meiner Freunde bei Discord oder WhatsApp geblieben. Ich würde ja etwas von wegen “du weißt, dass von dir die Rede ist” sagen, wenn auch nur die geringste Chance bestünde, dass er in diesem Artikel so weit gekommen wäre.

Denkanstöße

Beide vorhergehenden Fallstudien — Mozilla und Signal — sind Beispiele von wohlwollenden Organisationen, die ihre Nutzer ungewollt anfällig für Domestizierung machen. Im Falle von Mozilla ist das die Folge von Komplexität auf einer offenen Plattform. Im Falle von Signal ist die Folge einer einfacheren, aber geschlossenen Plattform. Leider spielen die (in beiden Fällen gute) Absichten bei der Einschätzung zur Gefahr, ob Nutzer domestiziert werden können, keine Rolle.

paulsnar hat mich auf den möglichen Zielkonflikt zwischen Einfachheit und Offenheit aufmerksam gemacht:

Ich habe den Eindruck, dass sich Einfachheit und Offenheit entgegenstehen; Um Signal als Beispiel zu nehmen: dass das Programm simpel ist, ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass es eine geschlossene Plattform ist — zumindest argumentiert Moxie so. Matrix andererseits mag einfach erscheinen, aber das dahinterstehende Protokol ist komplex genau weil es eine offene Plattform garantiert.

Ich habe keine einfache Antwort auf dieses Dilemma. Es ist wahr, dass Matrix (im Vergleich zu Alternativen wie IRC oder XMPP) außerordentlich komplex ist. Und es ist ebenfalls wahr, dass es schwieriger ist, eine offene Plattform zu entwickeln. Dennoch ist er möglich, Komplexität bei offenen Plattformen im Rahmen zu halten: Gemini, IRC oder aber Email sind Beispiele dafür. Auch wenn Email Standards nicht annähernd so einfach sind wie Gemini oder IRC, entwickeln sie sich langsam. Das verhindert, dass Implementationen ständig aufholen müssen wie es beispielsweise Webbrowser oder Matrix Clients und Server tun müssen.

Nicht jede Software muss Milliarden einbringen. Föderation erlaubt es Netzwerken wie dem Fediverse oder XMPP große Nutzerzahlen zu bedienen, ohne dass ein Gigant seine Seele verkaufen muss, um die Kosten zu decken. Obwohl domestizierungsresistente Geschäftsmodelle weniger profitabel sind, lassen sie dennoch die Entwicklung derselben Technologien zu, die durch die Domestizierung von Nutzern möglich wurden. Alles was fehlt, ist ein Marketingbudget: die meiste Werbung für viele dieser Projekte sind lange, unbezahlte Blogposts.

Vielleicht dürfen wir nicht allein auf Wachstum zielen und versuchen, es auf Teufel komm raus “groß zu machen”. Vielleicht können wir aufhören, sobald wir bei einem Projekt finanzielle Nachhaltigkeit erreicht haben; und damit letztendlich möglich machen, mit weniger mehr zu erreichen.

Abschließende Hinweise

Bevor dieser Text zu einer Art Manifest wurde, war es als eine Ausführung zu einem Kommentar gedacht, den ich unter einem Fediverse Post von Binyamin Green gemacht habe.

Anfangs habe ich mich aus persönlichen Gründen dazu entschieden, die Ausführungen in ihre jetzige Form zu bringen. Heutzutage fragen Leute jedes Mal nach einer Begründung warum ich etwas nicht nutze, was “jede(r)” nutzt (WhatsApp, Microsoft Office, Windows, macOS, Google Docs, …). Normalerweise wird meine Begründung ignoriert, auch wenn sie erwartet wird. Das nächste Mal, wenn wir uns treffen, haben sie meine Begründung bereits vergessen und wir spielen denselben Dialog nochmals durch. Meine Lebensentscheidungen jedes Mal durch logisch korrekte Aussagen aufs Neue rechtfertigen zu müssen — wohlwissend, dass sie erneut ignoriert werden — ist ein emotional anstrengender Prozess, der sich in den letzten Jahren negativ auf meine psychische Gesundheit ausgewirkt hat; meinen Freunden diesen Artikel zu senden und das Thema anschließend zu wechseln, sollte mir das ein oder andere graue Haar ersparen.

Dieser Artikel erweitert die Leitprinzipien der Freie Software und Copyleft Bewegungen. Dank geht an Barna Zsombor für gutes Feedback über IRC.

Da 2900 Worte nicht ausreichend waren, habe ich eine Fortsetzung geschrieben: Plattformen offen halten. Wirf' einen Blick, falls du diesen Artikel interessant fandest.


  1. Pierotti, R.; Fogg, B. (2017). The First Domestication: How Wolves and Humans Coevolved. Yale University Press. ↩︎

  2. Viele innerhalb der Freien Software Bewegung mögen den Begriff “Open Source” aus vielerlei Gründen nicht. Andere nutzen die Begriffe “Freie Software” und “Open Source” synonym. Und nicht zuletzt nutzen viele Firmen den Begriff “free” mit Blick auf den Preis und nicht in Hinsicht auf Freiheit — weshalb einige Freie Software Aktivisten den Begriff “libre” nutzen. Das alles kann recht verwirrend sein, weshalb ich es bevorzuge von FLOSS zu sprechen, der die Schnittmenge dieser Konzepte beschreibt. ↩︎

  3. Siehe Defective by Design. DRM ist ein weiteres klassisches Beispiel von der Domestizierung von Nutzern. Mozilla hat versucht zu verhindern, dass DRM zu einem Webstandard wird; aber hat DRM in seinem Browser implementiert, nachdem es von anderen W3C Mitgliedern überstimmt wurde. Das entschuldigt zwar nicht, DRM in einem Browser zu unterstützen, aber zeigt, dass bei Mozilla zumindest kein böser Wille vorlag. Dasselbe kann nicht über die anderen, pro-DRM W3C Mitglieder gesagt werden. ↩︎

  4. Moxies Blogpost hat viele Repliken bekommen. Zwei gute sind die von Linux Weekly News und Matrix.org↩︎